Wednesday 21 September 2011

Räumung angekündigt: Streit um "Zigeunersiedlung" vor den Toren Londons - Nachrichten Panorama - Weltgeschehen - WELT ONLINE

Ein fahrendes Völkchen hat sich bei London in seiner Siedlung verschanzt und will unbedingt sesshaft bleiben. Doch nun droht die Räumung, weil das Camp illegal sein soll.

Mary Sheridan, üppige Matriarchin, die sie ist, erhebt ihre Stimme, während sie das Kruzifix ergreift, das neben ihr auf einem Plastikstuhl liegt, draußen vor ihrer Wohnhütte.

Wie sich die Pavee in Basildon verschanzen
Foto: dapd/DAPD Buchstäblich auf die Barrikaden gehen in der "Dale Travellers"-Siedlung nahe London ...

„Wir leben seit zehn Jahren in diesem Camp, wir wollen eine Schulerziehung für unsere Kinder, niemand kann uns zwingen, wieder auf die Straße zu gehen, wie man das von Zigeunern sagt. Ja, es ist unsere Lebensweise, aber ob wir wandern oder nicht, entscheiden wir, nicht irgendein Stadtrat, der uns zehn Jahre lang an der Nase herumgeführt hat.“

Doch da irrt Mary vom Stamm der Pavee, einer nomadisch lebenden Minderheit irischen Ursprungs. Der Stadtrat von Basildon in Essex, eine Fahrstunde östlich von London gelegen, hat entschieden, dies Lager der „travellers“, wie man in England fahrendes beziehungsweise wanderndes Volk nennt, zu räumen, zur Not auch gegen gewaltsamen Widerstand der Bewohner und Hunderter Sympathisanten, die sich seit Wochen innerhalb des Lagers eingenistet haben.

„Camp Constant“ nennt sich dieses Lager im Lager, wo in einem Klarsichtzelt Essen ausgehändigt wird und die Travellers in passivem Widerstand unterwiesen werden.

Am Sonntag hatte ich die letzte Gelegenheit wahrgenommen, mich eingehend mit einigen der 400 Bewohner zu unterhalten und mir ein Bild zu verschaffen von der verfahrenen Rechtslage um das Dale-Farm-Lager.

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Barrikaden, Bulldozer, nervöse Spannung

Seit gestern ist das unmöglich: Die Anlage wurde in der Nacht zum Montag vollständig verbarrikadiert und mit Wächtern bemannt, die nach den Gerichtsvollziehern und den nicht weit entfernt geparkten Bulldozern spähen wie Jäger nach dem Wild. Einige haben sich an Pfosten oder abgewrackten Autos angekettet, die Polizei hat die Zufahrtswege gesperrt, eine nervöse Spannung herrscht.

„Kommt nur her, die Welt schaut zu“, lautet das Plakat, das Stevie Stratton gegen die erwarteten Gerichtsvollzieher, die verhassten „bailiffs“, ausrollen wollte, aus Solidarität. Stevie lebt nicht weit von Basildon, in Southend-on-Sea. Er bezeichnet sich als „halber Zigeuner“, denn seine 86 Jahre alte deutsche Mutter aus Winterberg im Sauerland konnte der Vernichtung ihres Stammes in Hitler-Deutschland entrinnen und sich nach England retten, während die übrige Familie dem Holocaust zum Opfer fiel.

Auch über Dale Farm lastet eine dunkle Wahrheit: Es gibt für die 300.000 in England lebenden Travellers überhaupt nicht genügend legale Plätze, auf denen sie sich, ob temporär oder für längere Zeit, niederlassen könnten. Dieser Mangel zwingt sie, öfter als sie wollen von Ort zu Ort zu wandern und dabei beständig mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten; Ausweisungen gehören zu ihrem Alltag.

Sobald an irgendeinem Ort die geplante Genehmigung eines Lagers ruchbar wird, starten die Bürger Unterschriftenaktionen und bringen damit solche Pläne sofort zu Fall.

Vorurteile gegen die Travellers sitzen tief und sind nicht in allen Fällen unbegründet, wie eine Razzia in einem Lager in Buckinghamshire zeigte, wo die Polizei ein Dutzend angeblich wie Sklaven gehaltene Männer befreite, die unter menschenunwürdigen Bedingungen zu niederer Arbeit gezwungen worden waren. Neun der Lagerbewohner wurden in Untersuchungshaft genommen.

Sie besitzen das Land, aber kein Recht, es zu bebauen

In Dale Farm liegt kein krimineller Fall dieser Art an, nur ein legaler Streit: Die Mehrheit der Bewohner hat sich außerhalb eines kleineren, legalen Areals angesiedelt, das sie vor zehn Jahren gekauft hatten und auf dem sie sich niederließen mit Wohnwagen, Fertigbungalows, mobilen Behausungen oder Hütten von armseliger Art – insgesamt 51 Plätze ohne Baugenehmigung, verglichen mit den 34 legal besiedelten nebenan.

Die Travellers besitzen das Land, jedoch kein Recht, es zu bebauen. Der Stadtrat von Basildon behauptet, es sei Land, das zum Grüngürtel zum Schutz gegen urbane Zersiedelung gehört.

Aber da ist ein Haken: Kurz nachdem die Travellers dies Gelände gekauft hatten, es war ein Schrottplatz mit Autowracks, pflasterte Basildon das Areal mit Beton und anderem Befestigungsmaterial zu – merkwürdig für eine Gemeinde, die angeblich Green-belt-Land für die grüne Lunge retten möchte.

So fühlten sich die Travellers, die mehrheitlich zum irischen Stamm gehören und in ihrer vielfach blonden Erscheinung so gar nicht dem landläufigen Bild vom „Zigeuner“ entsprechen, eingeladen, auf ihrem erworbenen Besitz zu bauen.

Hier steht ein Rechtsparagraf gegen eine über zehn Jahre gewachsene Gewohnheit. Ein Fall von „ethnischer Säuberung“, wie es ein Protestplakat behauptet? In der britischen Öffentlichkeit ist die Meinung gespalten: Das Recht ist heilig, aber Solidarität mit einer bedrängten Minderheit auch. Es war dieser Konflikt, der gestern zunächst zum Aufschub der Räumung führte.

Derweil bringt Mary Sheridan ihrem hochintelligenten Promenadenterrier Brownie bei zu bellen, wenn das Wort Bailiff fällt – lieber noch zuzubeißen, wenn ein solches Exemplar sich zeigen sollte. Man hat ihr eine Sozialwohnung als Ersatz angeboten – „pfui Teufel, dieser Mehltau an den Wänden! Wir wollen uns auch nicht trennen lassen, wir sind eine zusammengewachsene Gemeinschaft.“

Zwei Schulkinder stürmen heran, mit Post und Zeitungen: Die lesen sie der älteren Generation vor, die, weil permanent auf der Straße, nie lesen und schreiben gelernt hat. Das soll jetzt anders werden. Die neue Generation genießt die Früchte der Sesshaftigkeit – wenn der Stadtrat von Basildon es zulässt. Danach sieht es nicht aus.

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